Gute Menschen?

 

Gute Menschen gibt es. Irgendwo gibt es sie. Nicht viele, nehme ich an, aber es gibt sie. Niemand weiss so richtig, wie sie beschaffen sind, aber wenn man auch nur einen träfe, wüsste man es.

 

Aber wahrscheinlich gibt es sie nicht. Wahrscheinlich sind sie eine Erfindung, bloss eine Summe von Träumen.

 

Weltverbesserungsträumen. Gute Menschen, eine menschenfreundliche Welt – eine einfache Gleichung, aber nicht realistisch. Gute Menschen scheitern an der Welt, für das Gutsein ist sie nicht der richtige Ort. Stelle ich mir vor. Wenn es sie denn gibt, sind sie längst tot. Man kann sie hier nicht gebrauchen. Die Welt ist schlecht, ihre Erlöser/innen können nicht gut sein, heisst es. Wenn wir denn überhaupt an Lösungen glauben, an die grossen, die weltumspannenden, aber das tun wir nicht. Nicht mehr. Wir sind nicht naiv. Mit wenigen Ausnahmen. Die lachen wir aus.

 

Gute Menschen gibt es in Büchern. Aber wer liest schon. Und was änderte das. Gut sein ist nicht ansteckend. Überträgt sich nicht, nicht durch Berührung, nicht durch einatmen, nicht durch Körperkontakt.

 

Und was ist überhaupt ein guter Mensch?

 

Einer, der niemanden verletzt? Eine, die sich nicht fürchtet zu verlieren? Einer, der lieber sich opfert als andere? Sich sorgt, nicht nur um sich? Niemanden zum Mittel macht, zu einer Zahl, zu etwas Überzähligem? Eine, die sich einmischt, leidenschaftlich, mit allem, was sie hat? Mit Überzeugungen, die überdauern, standhalten, vor allem dem Eigennutz? Einer ohne Schuld? Mit sauberen Händen, an denen kein Unrecht klebt, keine Ausbeutung, keine Zerstörung, kein einziges Quäntchen Missbrauch von Menschen, Macht, Geld, Fähigkeiten, Wissen?

 

Das gibt es nicht, lässt sich nicht einmal erfinden. Auch in unseren Himmel wähnen wir das Gute nicht, nicht in reiner Form; auch hier wie überall nur eine Mischung aus Freude und Schmerz, denn auch die Götter, die unendlichen, geben sie ihren Lieblingen ganz, „alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ (J.W. von Goethe)

 

Das Gute – ein Traum, aus dem man immer wieder vertrieben wird, jeden Tag, wachgerüttelt ohne Gnade ins helle Licht der Enttäuschung. Trotzdem hört man nicht auf zu träumen. Vielleicht ist es das Beste, das man zustande kriegt, dieses selbstvergessene Träumen, vielleicht rettet es das letzte bisschen Würde, das man sich zugute halten kann. Es sei uns eine Art des Stolzes erlaubt, schrieb Ingeborg Bachmann, den Stolz jener, die in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgeben und nicht aufhören, nach dem Rechten zu sehen. Wenig genug, aber vielleicht genug.

 

Wir trauen ihm nicht, dem Wort nicht, uns nicht. Alles bereits durchdacht, bezweifelt, mit gutem Grund. Erfahrung nennen wir sie, die Enttäuschung. Und was lässt sich dagegen sagen. Nichts. Da hilft nur Trotz, also Hoffnung. Die wird aus Schaden durchaus nicht klug. Dumm ist sie dennoch nicht. Bloss stur, uneinsichtig, wenn Einsicht heisst: Die Menschen sind nun mal aus Staub und Dreck gemacht. Egoist/innen durch und durch. „Jeder Mensch ist ein Egoist und die Welt ein Krieg aller gegen alle. Weil der Mensch zudem über eine gewisse Klugheit verfügt und also weiss, dass er auf die anderen angewiesen ist, kann man getrost folgern, dass der reine Egoismus das Wohl aller fördert und die Welt vorwärts bringt.“(Das Mephisto-Prinzip, Tages-Anzeiger, 4.7.2001). Das Schlimmste, was der Welt passieren kann, sind Altruisten, sind selbstlose Menschen, heisst es weiter, „denn während die Altruisten die anderen totschlagen, die ihre Hilfe ablehnen, weiss der Egoist, dass er aus toten Menschen keinen Nutzen mehr ziehen kann.“(ebd.)

 

Wieso habe ich das bloss noch nicht begriffen? Dass es in der Welt deshalb so verrückt zugeht, weil es von Altruistinnen, Gutmenschen und Menschenfreunden nur so wimmelt. Weil zu viele viel zu gut sind. Zu wenige an sich denken und ihren Vorteil. Das Gute wollen, aber damit das Böse tun. Wohingegen der, der das Böse will, Mephisto gleich, stets das Gute schafft.

 

So denken hilft. Hilft Zeit sparen und Verstand, Skrupel sowieso. Wieso fruchtlos am Guten herumgrübeln, wenn es sich automatisch erzeugt, als Abfall- oder Nebenprodukt des Eigennutzes?

 

Erst kommt mein Fressen, meine Vorspeise, mein 5-Gang-Menue, mein Dessert und nicht zu vergessen Wein und Schnaps und was unter den Tisch fällt, das ist meine Moral.

 

Der Egoist weiss, dass er aus toten Menschen keinen Nutzen mehr ziehen kann – und lässt sie leben. Soll mich das beruhigen, mir weiterhelfen? Nein, nur sagen, was Sache ist, damit ich aufhöre, mir etwas vorzumachen. Man will mich zur Vernunft bringen. Aber um dieser Vernunft zu trauen, bin ich vielleicht nicht naiv genug. Und es stimmt ja nicht mal, dass man aus toten Menschen keinen Nutzen ziehen kann – sie liefern täglich neue Gründe für Hass, Vergeltung, Gewalt, Terror, Krieg.

 

Aber naiv bin ich zweifellos und zwar gründlich und es macht mir nichts aus. Ich halte es mit meiner Tochter, die auf die Frage, was im Leben das Wichtigste sei, antwortet: Gut sein und das Leben geniessen.

 

Einfach ist das nicht, das Gut-sein nicht, das Geniessen nicht, beides zusammen eigentlich unmöglich. Aber in einer Welt, in der nichts unmöglich ist, das Schlimmste nicht und vielleicht auch das Schönste nicht, ist auch das möglich.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2002 / Kolumne NLZ