Die Welt danach ...

 

Seit dem 11. September ist nichts mehr so, wie es war. Sagt man uns. Viele sagen es, von allen Ecken und Enden her sagen sie es. Sie sagen es voller Angst, voller Pathos, voller Wut und voller Entsetzen. Die Welt wurde seither jeden Tag neu eingeteilt in vorher und nachher, wir und die anderen, dürfen und nicht mehr dürfen. Das ging furchtbar schnell, und ich weiss nicht, wieso alle so viel mehr wissen als ich über das, was hier begonnen haben soll.

 

Ich weiss nicht viel. Nur der Schock sitzt noch immer tief. Ich verheddere mich noch immer in den Bildern, Kommentaren, Analysen und Wortfetzen, die ich getreulich Tag für Tag aus Zeitungen und Fernsehen zusammengetragen habe. Ich kann mir vorstellen, was es heisst, es hat Körper geregnet, aber ich weiss es nicht. Ich kann mir vorstellen, was in diesen Türmen und Flugzeugen vor sich ging, ich kann mir tausendundeine Möglichkeit des Schreckens und der Verzweiflung und des Sterbens vorstellen, aber ich habe keine Ahnung. Ich bin froh, dass ich es nicht weiss. Und ich schäme mich, dass ich froh bin.

 

Ich möchte einfach gerne die Bilder loswerden, die jeden Tag neu in meinen Kopf einschlagen, ich möchte gerne eine Seite weiterblättern. Ich möchte gerne das Radio anstellen und keine Drohreden hören, und ich möchte nicht, dass der Wilde Westen und die Kreuzzüge und die Reiche des Bösen hier oder dort auferstehen, und ich möchte, dass die Welt nicht mehr allein aus Amerika besteht und aus all den Ländern, die jetzt plötzlich auch Amerika geworden sind. Auch nicht aus Terroristen und Barbaren und Erdöl und strategischen Interessen und westlicher Dekadenz und auszurottenden Ungläubigen und selig machendem freien Kapital und stürzenden Aktien und standhaften Patriot/innen und mörderischen Autisten.

 

Aber ich möchte sowieso alles, was nicht geht: Nüchternheit trotz Trauer und Wut, das Erkennen des Splitters im eigenen Auge, erreichbare Ziele, andere Formen des Handelns, Deeskalation anstatt Kriegsrhetorik, die Stärke des Standhaltens anstatt des Zurückschlagens, eine neue Sicht auf die Welt, auf Verantwortung dafür und den eigenen angemessenen Platz darin.

 

Des weiteren möchte ich mich mit Belanglosigkeiten beschäftigen können, mich wegen Kleinigkeiten aufregen und mich freuen auch. Ohne Entschuldigungen.

 

Ich möchte verstehen, was in all den Köpfen vor sich geht, die den Krieg herbeireden, ihre Unterstützung dafür bereitwillig zusichern, ihn für unabwendbar halten und für ein Zeichen der Widerstandskraft der freien Welt. Ich möchte verstehen, wie man zu dieser Sicherheit gelangt und wie man angesichts des tausendfachen Sterbens nichts Besseres weiss, als es fortzusetzen. Verstehen möchte ich, wie man ein Mensch wird mit Zielen, die massenhaftes Morden rechtfertigen. Wie man den Schritt tut von berechtigter Kritik in die geschlossene Welt des Wahns und in die Arroganz der Vernichtung ohne Spuren des Zweifels. Überhaupt möchte ich gerne verstehen, weshalb so wenig Zweifel in der Welt ist, aber so viel Glaube und so viel Wahrheit, die den Zweifel verbieten; woher all die Selbstüberschätzung kommt gepaart mit Mangel an Phantasie. Probleme lösen, indem man Menschen aus der Welt schafft? Mögen die Mittel raffiniert sein, die Strategien genial, das Töten selbst entbehrt jeglicher Phantasie.

 

Ich möchte verstehen, wieso wir plötzlich nur noch in zwei Welten leben, einer zivilisierten und einer barbarischen. Wie wir von einem Tag zum andern die Guten geworden sind, schuldlose Opfer eines Krieges gegen alles, was uns eint: gegen Demokratie, Freiheit, Humanität. Aus unserer „zivilisierten“ Welt verschwunden scheinen von einem Tag zum anderen, Rassismus, Umweltzerstörung, Armut und ungeheure Bereicherung, Gier, Zynismus und Gleichgültigkeit, Gewalt und Ausbeutungsformen jeglicher Art.

 

Ich möchte diese Welt aus groben Strichen und neu gezogenen Gräben nicht zu meiner machen. Ich möchte weiterhin den Schatten sehen, den unsere Lebensart auf weite Teile des Globus wirft und das Unrecht, das sich darin so oft nur undeutlich zeigt. Ich möchte irritiert sein dürfen, ob dem ungeheuren Mass an Mitleid, das so plötzlich in die Welt kam und fragen, wo es sich versteckt hatte, als es von einem Massaker hier und einem Massenmorden da vergeblich gerufen wurde.

 

Ich möchte die Fähigkeit zum Mitgefühl nicht gering schätzen – immerhin berührt etwas, immerhin gerät man aus dem Tritt und wird Selbstverständliches wieder zum kostbaren Gut, aber ich weiss auch, dass Mitleid nicht viel kostet und dass es wählerisch ist. Es teilt ein in nahe und es teilt ein in fern, in zuerst wir und dann die anderen. Das ist menschlich, sagt man, es funktioniert so. Ein Feuerwehrmann und eine Brokerin im World Trade Center bekommen es eher als ein massakrierter Tutsi in Ruanda oder eine ermordete Sozialarbeiterin in Kolumbien. Ich weiss, dass dem, was nahe geht, keine Rechnungen zu Grunde liegen, es geschieht einfach, aber ich weiss auch, dass sich dem Mitleid nicht selten die Erleichterung zugesellt, dass der Schmerz der anderen einem selbst erspart blieb. Das trübt seinen Glanz. Ich weiss auch, dass Mitleiden kein wirkliches Leiden ist und der fremde Schmerz ein fremder, wie eine verschlossene Tür. Trotzdem bedrängt sie mich, diese Fülle von Schmerz.

 

Ich weiss, dass meine Wünsche sich nicht erfüllen werden. Ich weiss auch, dass meine Wünsche nicht wissen, wie zu handeln wäre. Aber ich weiss, dass mein Respekt neben all jenen, die in jeglicher Form geholfen haben und noch helfen, Leiden zu mindern, auch um den Preis ihres Lebens, dass mein Respekt in diesen Tagen auch Barbara Lee gehört, jener Frau, die als einzige gegen eine Mehrheit von 420 Kongressabgeordneten gegen den Einsatz der amerikanischen Streitkräfte gestimmt hat – aus Gründen der Zurückhaltung. Ihr moralischer Kompass verbiete ihr, einem Krieg zuzustimmen, der ohne absehbares Ende beginne, weder eine schlüssige Strategie habe noch ein klares Ziel.

 

Sie besitzt einen Kompass, den es leider nirgends zu kaufen gibt.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2002 / Kolumne NLZ