Wenn ich ein Vöglein wär ...

 

oder ein Krokodil, ein Reh, eine Eule, ein Fisch, was auch immer, jedenfalls wäre ich dann endlich ein glücklicher Mensch. Ich hätte es für immer hinter mir gelassen, das mangelhafte Menschenwesen und wäre sozusagen am inneren Tier genesen. Sagt Professor Pilzbarth. Nur, wer zum Teufel ist Professor Pilzbarth?

 

Eine delikate Frage. Jedes Urteil fällt schliesslich immer auf einen selbst zurück und Professor Jakob Pilzbarth hätte damit einen Fall mehr für seine tierische Theorie. Ja, wer und was ist dieser Schweizer Professor vom Bodensee? Träumer, Genie, Forscher, Spinner, Erlöser? Von allem wahrscheinlich ein bisschen. Einer der riesigen Gilde von Welt- und Menschenverbesserern. Einer mit einer Mission, eifrig und voller Pathos. Sein Hauptwerk aus dem Jahr 1900 trägt den stolzen Titel „Die Überwindung des Menschseins durch Anthropolyse“. Geboren im letzten Jahrhundert, wirkte er bis ins Jahr 1930 als Bäderarzt in Girenbad, war Student in Wien, bekannt mit Sigmund Freud und C.G.Jung, unterwegs in Afrika und Sammler von allerlei Forschungsmaterial, das sich mit den weltweit dokumentierten Mischformen von Mensch und Tier beschäftigt.

 

Dass der Mensch ab und zu zum Tier wird, ist eine alte Einsicht, nur nicht immer nimmt sie so drastisch konkrete Formen an, wie sie Professor Pilzbarth in der Entwicklungsgeschichte des Menschen aufspürte und in der Folge mit seinen sonderbaren Badekuren selber zu realisieren suchte.

 

Ob Medusenhaupt, Werwolf, Kentaur oder Sphinx – am Menschen werden immer wieder faszinierende Restbestände des animalischen Erbes bis in die konkrete Gestalt hinein sichtbar. Das ist unheimlich, beunruhigend, beängstigend. Kein Wunder auch fällt Jakob Pilzbarths Forschung am ambivalenten Wesen Mensch zusammen mit dem Beginn der Psychoanalyse. Was diese jedoch im Unbewussten, gar im stammesgeschichtlich geprägten psychischen Erbe des Menschen beheimatete, versuchte Pilzbarth in vielerlei Experimenten ins Konkrete zu übersetzen: Was er wollte, war die Fortentwicklung des Menschen, die mehr ist als eine Nachbessern und ein Herumflicken an einer mangelhaften Ausgangslage. Sein Ziel war es, den Menschen ins posthominide Zeitalter zu führen. Der Mensch nämlich, so Pilzbarth ist ein Unfall in der Entwicklungsgeschichte, voller Leiden und Mängel, halb tierisch, halb göttlich, zu Hohem berufen, aber körperlichen Defekten und Schwächen ausgeliefert, ein „unglückliches, in sich zerrissenes und unharmonisches Wesen“. Seine Tragik besteht darin, dass er kontinuierlich seine Umwelt verändert, sich ihr aber nicht anzupassen weiss, weil „seine Seele nicht mitkommt“. Pilzbarths Lösung? Der Mensch muss morphologisch so konstruiert werden, dass sein Körper und seine geistigen Kapazitäten wieder Schritt halten können. Der Mensch ist Träger der Baupläne der ganzen Schöpfungsgeschichte und kann in seiner Entwicklung nur weiterkommen, wenn es ihm gelingt, diese Pläne bewusst nachzuvollziehen. Immerhin durcheilt er ja bereits als Embryo im Zeitraffer einen Teil seiner Stammesgeschichte, und so sollte es auch möglich sein, diese Entwicklung bewusst nachzuholen. Starke Kräfte machen es dem Menschen möglich, davon war Pilzbarth überzeugt, morphologische Veränderungen zu tierischen Stadien zu bewirken. Die Anthropolyse nahm sich die Lücken der Entwicklung vor und konzentrierte sich auf jene Stadien, die nachgeholt und nachgelebt werden mussten, damit der Sprung in den posthominiden Zustand gelingen kann. Und so wurde denn dank Professor Pilzbarth aus Frau Grossmann eine Fledermaus, aus Herrn Dr. Weber ein Nilpferd und aus Herrn Wettstein ein Marabu.

 

Wer das alles glaubt, ist selber schuld. Vielleicht würde ja eine Anthropolyse helfen. Oder ein Gang ins „musée bizarre“ in Rieden bei Baden, das dem Leben und Wirken des Professor Jakob Pilzbarth gewidmet ist und sich dem Witz und der Kreativität von Jürg Willi und Margaretha Dubach verdankt. (www.musee-bizarre.ch) Dort lassen sie sich bestaunen, die phantastischen Labors des Herrn Pilzbarth mit ihren Elaboraten in Mensch-Tier-Gestalt. Dokumentationsmaterial in Hülle und Fülle findet sich da – Fotos von Jakob Pilzbarth mit Freud und Jung, im Kreis von Freunden auf Expedition in Afrika, Bilddokumente und Nachbildungen seiner erfolgreichen Versuche am Menschen. Unglaublich und nicht wahr. Man geht durch dieses bizarre Panoptikum der Phantasien über den Menschen – seine beklagenswerten Defekte und seine heilbringenden Überwindungen – und man weiss nicht recht, was soll es bedeuten. Es ist amüsant und verwirrend, gut erfunden und irritierend realistisch inszeniert. Einiges ist durchaus denkbar, und die Ideen mögen zwar abstrus scheinen, die Gründe dafür hingegen sind ab und zu ganz vernünftig. Dass man sich heute in unseren Labors an der Kreation solcher Mischformen von Mensch und Tier versucht und auch an der Übertragung tierischer Organe auf den Menschen, nimmt den bizzaren Pilzbarthereien etwas von ihrer Kuriosität. Die Welt, so scheint es, kann es im Wettbewerb um die realisierten Absurditäten jederzeit mit diesem Museum des Bizarren bei Baden aufnehmen.

 

Am Ende mischen sich Amüsiertheit und Nachdenklichkeit. So gut wurde man schon lange nicht mehr zum Narren gehalten. Und weil das Närrische meist abfärbt, wünscht man sich voll Neugier und Schadenfreude, man könnte ab und zu, auch ohne Anthropolyse, hinter jedem Menschen das Tier aufscheinen sehen – die Tatze des Bären, die nur immer nach dem Honig langt, die Ohren des Esel, die Reisszähne des Wolfes, die Streifen des Tigers oder den Kopf des Schweins.

 

Aber wahrscheinlich offenbart dieser Wunsch auch nur wieder jene Lücke in der eigenen morphologischen Entwicklung, die zu schliessen Professor Pilzbarth angetreten ist, und man möchte nicht gezwungen sein herauszufinden, was genau man nachzuholen hat.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2002 / Kolumne NLZ