Es fehlt uns etwas

 

Ob man das, was in Erfurt geschehen sei (1), vielleicht nicht auch als Schicksal bezeichnen müsse, fragte ein Journalist in einem Fernsehinterview. Den Rest des Gespräches habe ich vergessen, nur dieser eine Satz schien mir wie ein Findling in der Berichterstattung zu stehen. Ein Satz wie aus einer anderen Zeit. Durchaus gewagt. Heikel wie alles, das sich nicht in die Ursachen und die Wirkungen fügen will.

 

Natürlich hat der Interviewer nicht gemeint, es müsse nicht von Gründen die Rede sein und nicht gesagt, man solle sich nicht mit den notwendigen Massnahmen beschäftigen. Was er aber, wenn auch vorsichtig fragend, gesagt hat: Es lässt sich wohl nie alles in den sichernden Griff kriegen. Es gibt einen Rest, etwas Dunkles, einen Kern, an den vielleicht nichts heranreicht: keine verschärften Waffengesetze, keine Schulpsychologin, keine Metalldetektoren am Schultor und auch kein Verbot „jugendgefährdender Computer- und Videospiele“. Damit hat er keinesfalls gesagt, man könne dies getrost alles vergessen. Er hat nur gesagt: Es nützt vielleicht trotz allem nichts. Es ist vielleicht etwas, das kann geschehen, zu jeder Zeit, und es gibt einfach keine Massnahmen dagegen, denn das Schreckliche steckt nicht einfach in den Gründen, die man nennen kann, einen um den anderen – Beziehungsprobleme, Einsamkeit, Versagensangst, Grössenwahn, Mangel an Anerkennung, Hass, Tötungslust – und weil es nicht einfach in den einzelnen Gründen steckt, ist es schwer vorstellbar, wie es sich verhindern lässt.

 

„Wir wissen wenig voneinander“, sagt Danton in „Dantons Tod“ von Georg Büchner. „Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab ...“ Mehr als 150 Jahre später formuliert es Philip Roth so: „Obgleich die Welt voller Menschen ist, die glauben, alles über ihren Nachbarn oder dessen Nachbarn zu wissen, ist das, was man nicht weiss, in Wirklichkeit unendlich. Die Wahrheit über uns ist unendlich“(Der menschliche Makel, 350). Noch so viele Fachleute können den Verdacht nicht ganz ausräumen, dass, was hier geschah, mehr ist als die Summe aus Versäumnissen, Kränkungen, Schiessübungen und Computerspielen. „Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür – aber wir werden es uns nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?“ Und wie ein Echo auf Büchner schreibt Roth: “... der Makel ist untrennbar mit dem Dasein verbunden. Er hat nichts mit Ungehorsam zu tun. Er hat nichts mit Gnade oder Rettung oder Erlösung zu tun. Er ist in jedem. Eingeboren. Verwurzelt. Bestimmend. Der Makel, der schon da ist, bevor irgendeine Spur davon zu erkennen ist. Es ist nichts zu sehen, und doch ist er da, ... der Makel, der jedes Erklären und Begreifen übersteigt.“ (271f.) Es fehlt uns etwas, das lässt sich nicht erklären; es geht ein Riss durch die Welt, durch uns, der wächst nicht zu: Es ist der menschliche Makel, das Zeichen der Vertreibung aus dem Paradies der Unversehrtheit und Schuldlosigkeit, das Zeichen, das man nicht sieht.

 

Ob Büchner, ob Roth – was sie beschreiben sind keine Fakten. Was sie beschreiben, gehört in den Bereich jenes Wissens, das auch die alten religiösen Erzählungen kennen. Nur sagen sie nicht „menschlicher Makel“, sie nennen es Erbsünde. Wem immer die Schuld an diesem Makel gegeben wird, das Wissen bleibt, dass etwas an dem, wie wir sind, von Grund auf nicht stimmt. Immer und immer wieder schrecken wir auf aus dem Traum, dass der Mensch dem Menschen grundsätzlich wohl will.

 

Dieses Wissen hilft nicht, wenn es um Massnahmen geht. Dieses Wissen oder diese Ahnung, dass uns etwas fehlt, löst kein Problem, aber dasselbe gilt für Verbote, Gentherapien, Schulpsychologen und Metalldetektoren. Man mag das Reden vom Dunkel im Menschen und vom Schicksal befremdlich finden, aber auch die immer gleichen Rituale des Erschreckens des Menschen über den Menschen sind eigenartig und manchmal ermüdend. Immer und immer wieder dieses Entsetzten, als ob Vergleichbares noch nie geschehen wäre und das scheinbar Unvorstellbare nicht Tag für Tag durch die unerschöpflichen Phantasiereserven der Grausamkeit widerlegt würden. In seinem neuesten Buch „Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg“ schreibt Wolfgang Sofsky, dass, wer die Ursachen von Gewalt auf psychische oder soziale Defekte abwälzt, das Wesentliche eliminiert: Schuld und Freiheit. „Kontexte sind keine kausalen Ursachen, sind weder hinreichende noch notwendige Bedingungen für gewalttätiges Verhalten. Allenfalls begünstigen oder hemmen sie die Gewalt. ... Der Kontext erklärt keine einzige Gewalttat.“(25) Zwischen der Situation und der Tat klafft eine Lücke. „Es bleibt ein unvorhersagbarer Rest, der sich jeder Erklärung entzieht: die Freiheit, Gewalt auszuüben oder zu unterlassen.“(26) Vom „Paradies der Grausamkeit“ schreibt Sofsky, vom „Tanz der Gewalt“ und vom Exzess, der den Menschen befreit, nicht nur vom Verbot, sondern auch von den Beschwernissen der Existenz. Denn er verhilft zu einem seltenen Erlebnis innerer Einheit. „Das Fest der Gewalt ist ein Sprung in einen utopischen Zustand. Eine uralte Sehnsucht erfüllt sich: der Traum von absoluter Macht.“(36)

 

Wenn man Sofskys Buch liest, sucht man vergeblich nach einem Notausgang aus diesem „Garten des Bösen“. Es gibt keinen. Die Welt ist, was sie ist: ein faszinierender und ein erschreckender Ort. Sie haust den einen im Denken, den meisten schmerzhaft im eigenen Leib. Massnahmen ergreifen, wütend und erfinderisch, das muss sein, auch wenn einen Weg zu finden zwischen dem Möglichen und dem Nötigen schwer ist. Aber manchmal driften die Gedanken weg, lassen das Sich-kundig-Machen hinter sich und ziehen einfach hinter einem Bild her – hinter dem Wagen mit der aufgemalten blauen Träne etwa, der in Laszlo Darvasis "Legende von den Tränengauklern" durch das Europa des 16. und 17. Jahrhunderts zieht. Die Tränengaukler tauchen überall da auf, wo Menschen von Unglück und Gewalt heimgesucht werden, und sie weinen schwarze Steine, sie weinen Blut und Eis, sie weinen kleine Spiegel und sie weinen Honig.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

(1) Der Amoklauf von Erfurt ereignete sich am Vormittag des 26. April 2002 am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Dabei erschoss ein 19-jähriger Schüler elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizeibeamten. Anschließend tötete er sich selbst.

 

© Silvia Strahm 2002 / Kolumne NLZ