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Rationierte Aufmerksamkeit
Routine ist schön und gut. Hilfreich. Entlastend. Auffangnetz für alles und jedes. Die Maschen eng genug, in der Regel reissfest. Das ist tröstlich, meistens ist es tröstlich. Manchmal jedoch zum Schreien normal, auch das, was aus der Ordnung fällt oder fallen müsste. Und doch nicht tut. Routine als Schlupfloch, Panzer, Festung; man nennt es vernünftig sein. Nicht naiv. Realistisch halt.
Auch der Nachrichtensprecher denkt das. Sein Lächeln schmiert den Übergang von den täglichen paar Hundert Toten zu den Sportberichten. Was soll er auch tun? Routiniert der Sprecher, routiniert die Zuhörenden, Genies der Abstraktion, Meister/innen der Kritik an Scham und Selbstkritik, professionell im Umgang mit Ereignissen, mit denen man nicht umgehen kann.
Was wäre, wenn ... wenn die Routine nicht mehr gelänge, alles aus dem Ruder liefe? Eine müssige Frage. "Was wäre, wenn" geschieht nicht. Wir schalten weiterhin routiniert ein, manche auch vorsorglich aus. Die wenigstens werden wahnsinnig, einige erschrecken, viele werden kurzzeitig traurig, schütteln den Kopf – die Welt gerät darob nicht durcheinander, nicht mehr, als sie es schon ist.
Auch die Tagesschausprecherinnen verhalten sich normal. Lächelnden Dompteusen verwandt zähmen sie uns aufs Eleganteste die Informationen. Manchmal lassen sie uns zwar deren furchterregende Reisszähne sehen, auch ein bisschen Fauchen und Geifern, aber sie treiben sie schlussendlich immer wieder zurück an ihre Herkunftsorte. Man versteht sich. Bisher sind keine Zwischenfälle zu vermelden. Keine, die ihre Horror-Nachrichten aus der Röhre schreit, die ihre Zettel vor Wut zerreisst, die Kamera attackiert, wegrennt; kein Blut, das aus dem Bildschirm strömt, kein Gestank nach verbranntem Menschenfleisch, das aus irgendeiner Öffnung dringt, keine Fleischfetzen, die es uns ins Gesicht klatscht. Das gibt es nur in surrealistischen Filmen, den Überfall der Realität. Jedenfalls für uns. Für Fernsehzuschauende, die irgendwo leben im Niemandsland zwischen Realität und Fiktion.
Niemand zwingt irgendjemanden hinzuschauen. Selbstschutz ist nicht verboten. Auch Abgebrühtheit nicht und gelangweiltes Gähnen, wenn andere sich mit wiederkehrenden Anfällen von Skrupeln plagen. Auch im Umgang mit Skrupeln regiert schliesslich die Routine.
Aber manchmal bekommt sie doch kleine Risse, diese Hilfskonstruktion gegen das Eindringen von nicht vorgesehenem Entsetzen. Nicht nur ab und zu ein Bild, das sich durch die feinen Risse drängt und nicht mehr verschwindet, manchmal genügt ein Kommentar, um an den Schrecken der Normalität des Schreckens zu erinnern. Und an die routinierte Rationierung unserer Aufmerksamkeit. Anne Karpf, Kolumnistin beim Guardian, formuliert es unter dem Titel „Die Hierarchie des Todes“ und bezugnehmend auf den 11. September so: „Falls Sie wollen, dass Ihr Tod den Medien und der Öffentlichkeit etwas bedeutet und Ihre Verwandten anständig entschädigt werden, stellen Sie sicher, dass Sie a) weiss sind und b) aus dem Westen kommen, c) rasch, dramatisch und spektakulär sterben (nicht langsam an einer durch Armut oder unzumutbare Arbeitsbedingungen ausgelösten Krankheit), d) Ihr Tod von Millionen miterlebt wird, am besten im Fernsehen, und seien Sie e) wenn möglich in Besitz eines Mobiltelefons“.
Hintergrund dieses sarkastischen Kommentars in Form eines „Konsumentenführers“ durch die Hierarchie des Todes ist der immense und für die Autorin unangemessene Aufwand, der geleistet wird, um die Opfer der Twin Towers zu identifizieren. Was hier deutlich zu Tage tritt: Der Gleichmacher Tod ist ein Phantom. Es gibt ihn nicht. Die Menschen trauern instinktiv um jene, die ihnen ähnlich sind. Im Holocaust-Museum in Washington etwa, schreibt sie weiter, erhalten die Besucher/innen die Identitätskarte eines Opfers, das ihnen in bezug auf Alter, Beruf und Geschlecht entspricht. „Es scheint, dass unsere Fähigkeit zum Mitgefühl nur durch Narzissmus in Gang gesetzt werden kann, nur dadurch, dass wir alle in eine Version von uns selbst verwandeln.“ Können wir diese Verbindung nicht herstellen, dann zucken wir vielleicht kurz zusammen, aber die Opfer bleiben schlussendlich ohne Bedeutung.
Neu ist das nicht. Das wurde uns schon hundertmal gesagt und vorgeworfen. Für ein paar Minuten, Stunden oder Tage gerät vielen, einigen oder ein paar wenigen von uns vielleicht ein Schuldgefühl unter die umsichtig imprägnierte Haut – das überlebt aber nicht lange. Wir sind nicht so gemacht, dass sich das lange hält. Unser Herz kann sich nicht die ganze schreckliche Welt zu Herzen nehmen. Es ist dafür kein Platz. Zeit auch nicht. Wir müssten sonst das ganze Jahr, 24 Stunden am Tag, auf die Strasse gehen und auf jedem Zentimeter Boden Kerzen anzünden. Und das haben wir nicht vor. Die guten Gründe für unsere rationierte Aufmerksamkeit und die noch rationierteren Konsequenzen, die wir in der Regel daraus ziehen, mögen ganz vernünftig sein und zudem für die Stabilisierung unseres emotionalen Haushalts unabdingbar – eine gesunde Reaktion auf eine kranke Welt. Aber dass das alles so normal ist; es ist zum Verrücktwerden!
Silvia Strahm Bernet
© Silvia Strahm 2002 / Kolumne NLZ |
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