Eine Woche Welt

 

Ich muss nur über die Strasse, um Stoff zu kaufen. Der Stoff, den ich kaufe, gilt als harmlos. Er macht nicht high, nicht krank und ist legal. Er versorgt lediglich meine Neugier mit immer neuer Information. Den Stoff gibt es als Zeitung oder Zeitschrift, „die Zeit“ ist auf jeden Fall darin: manchmal in reiner Form, dann wieder gestreckt. Dieser Stoff, der als harmlos gilt, birgt trotzdem gewisse Risiken, verursacht oftmals Schwindel, Übelkeit, führt zu erhöhtem Puls, auch Wutanfälle sind schon vorgekommen.

 

Der Besitzer des Kioskes hat seinen Laden voll damit. Er geizt nicht und füttert meinen Lesehunger bereitwillig mit Spiegel und Facts und die Weltwoche überreicht er mir gar mit dezenter Ironie: „Eine Woche Welt!“ Erst zu Hause fällt mir der Hintersinn auf, der darin steckt.

 

Die Woche Welt in meinen Händen ist eines sicher nicht: die Welt. Das weiss ich. Ein Trost ist es nicht. Und helfen tut es auch nicht. Zeitungen bleiben trotzdem die Falltür in die Welt. Ein unaufhaltsames Rutschen in alles, was der Fall ist, vom Wahnwitz über das Wunder bis in den Dreck – nur am Schluss landet man trotzdem dort, wo man vorher schon war: in relativer Sicherheit, die Zeitung in der Hand, ein Rascheln und Umblättern, ein schnelles Hinschauen, ab und zu ein vertieftes Lesen, manchmal vielleicht sogar ein anhaltendes Nachdenken; aber damit sollte man sich nicht zu lange aufhalten, lieber das Ganze zusammenfalten, liegen lassen, aufstehen und weggehen, weil schliesslich in einer solchen Woche Welt die ungeheuerlichsten und spannendsten und gemeinsten und entsetzlichsten und kuriosesten Dinge stehen und man sich mit jedem einzelnen gut und gerne ein Leben lang beschäftigen könnte. Aber das hatte man schliesslich nicht vor, als man sie kaufte, diese Woche Welt.

 

In der Regel ist Zeitung lesen eine ganz harmlose Sache und ihre Lektüre verführt nicht zum Betreten eines Thema, bei dem es womöglich keinen Ausgang gibt. So dass man plötzlich darin verschwunden wäre und nie mehr gesehen ward. Es sind zwar schon Leute durch Schubladen oder Kästen in andere Welten geraten, durch eine Zeitung noch nie. Glaube ich wenigstens. Nur wissen tue ich es nicht.

 

Manchmal ist das Lesen nur ein naives Schauen. Und ein nachträgliches Wundern. Dass man es vom einen Thema zum nächsten relativ problemlos schafft. Ohne Brücken, ohne Wegleitung, ohne Zwischenhalt und Pausenstopp. Irre geworden ist dabei noch niemand und therapeutische Begleitung scheint nicht nötig. Wir durchqueren Kontinente, Menschenwelten, Monstrositäten und Lächerlichkeiten als routinierte Lesereisende, geübt im Abstandhalten vom Wissen, dass das, was hier geschrieben steht, tatsächlich stattfand, stattfindet und weiterhin stattfinden wird. Irgendwie müsste uns das zwar zu denken geben. Tut es aber nicht.

 

Und überhaupt: Es ist Sommer und ich sitze auf dem Balkon, vor mir diese eine Woche Welt, einen Kaffee in Reichweite, die Sonne im Gesicht und alles ist ein bisschen leichter als sonst, die Wut hält sich zurück, der Ärger legt sich rascher, die Neugier ist schneller satt: ja, ja, sicher, so ist es, wen erstaunt das denn. Und überhaupt: auch das Erstaunen ist nicht ganz da, räkelt sich selbstvergessen in der Sonne und weiss, dass es unter der Sonne nichts Neues gibt.

 

Vielleicht ist es die Sonne, vielleicht die Müdigkeit, vielleicht auch der Ekel vor dieser einen Woche Welt, auf jeden Fall zerren die bisher brav am Zügel laufenden Gedanken in alle Richtungen, gehen aufeinander los und verstricken sich, und auch die ganze Woche Welt gerät mitten in diesen Aufruhr, und es kommen Dinge in Gang, die unglaublich sind: Herr Milosevic mag nicht mehr in der Weltwoche (vom 5.Juli 2001) auf der Seite hinter Zoran Djindjic stehen und durchquert die Zeitung und sucht nach dem Ausgang und landet schliesslich hinten im „Leben heute“ bei Wolfgang Sofskys Text zum Thema Recht und Rache und weil alles so unglaublich ist, bleibt er stehen und hört zu: „Weder Rache noch Rehabilitation, einzig die Strafe hebt das Verbrechen auf. Ihr Sinn ist nicht Vorbeugung, Abschreckung, Schutz oder Integration, sondern Gerechtigkeit.“ Sie soll nicht den Menschen oder die Welt verbessern, sondern dem Recht Geltung verschaffen. Herr Milosevic mag das nicht hören und kehrt um, aber die Sache ist jetzt im Gange und der halbnackte Hintern eines blonden Models, aus unerklärlichen Gründen neben dem Photo des kleinen James Bulger an der Hand eines seiner Mörder gelandet, geht Richtung Frontseite, da steht „So viel Körper war nie“ und der Hintern gesellt sich zu den dort erwähnten drei RTL Models, die praktisch nackt durch München, Frankfurt und Berlin spazieren geschickt wurden. „Verteidigung des Leibes gegen die Entsinnlichung der Moderne“, heisst es da, „die Sensationen des Fleisches als Restparadies“, aber weiter unten lauert dann bereits die „Hölle des Normkörpers“. Also eigentlich hätte ich die Hölle lieber in der Nähe von Herrn Milosevic gesehen, aber wie dem auch sei, etwas vom Faszinierendste an diesem ganzen Tohuwabohu ist der hier zum ersten Mal zustande gekommene Austausch von Mensch und Bakterie über die Macht des Klatsches. Nicht nur den Menschen ergreift nämlich „die grosse Lust am Plappern“(S.29), sondern auch die Bakterien, gesellige Wesen, ergötzen sich am „Schleim-Getuschel“(S.39). Wir reden miteinander – sie tun es auch: auf unseren Zähnen. Die Biofilmbewohner sprechen miteinander, um ihre Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Das tun wir auch. Nur: sie tun es besser. Sie werden uns alle überleben. Ihre Kommunikation funktioniert ausgezeichnet, in ihrer Fähigkeit, sich neuen Situationen anzupassen, sind sie schneller und im Töten sind sie so gut wie wir.

 

Leider passieren solche verrückten Dinge nicht. Herr Milosvic bleibt auf Seite 5 und die Frage nach den Schamregeln steht nicht hier, sondern in einem Artikel über die Mode der Jugendlichen. Manchmal ist es in der Welt, es klingt verrückt, nicht verrückt genug.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2001 / Kolumne NLZ