Populäre Irrtümer

 

Sich zu irren ist vielleicht beschämend, aber äusserst populär. Alle tun es und nicht immer im Verborgenen. So wie die Sonne aufgeht über gut und böse, so gleichgültig verteilen sich Irrtümer über die Welt, nisten in allen Köpfen und brüten dort gleichermassen demokratisch neue aus. Natürlich lassen sie sich auch akkumulieren, tragen ab und zu sogar zur Kapitalbildung bei, aber irgendwann werden sie ihrer Verkleidung beraubt und erscheinen als das, was sie sind: schlichte Fehler, falsche Interpretationen, täuschende Klarheiten. Bis es so weit ist, arbeitet man bereits erfolgreich am Nachwuchs. Irrtümer haben sozusagen eine hohe Fortpflanzungsbilanz.

 

Es gibt ganze Lexika, die sich damit beschäftigen. Das „Lexikon der klassischen Irrtümer“ etwa – eine Sammlung all dessen, was die Menschen einmal für richtig hielten, eine Sammlung, die beweist, dass die Menschen durchaus klug sein mögen, nur leider meistens nachher.

 

Eines trägt den Titel „Lexikon der populären Irrtümer“ und wenn man es von Abendrot bis Zeppelin durchliest, versteht man ziemlich genau, weshalb da noch dieses „populär“ steht. Es ist deshalb nicht unbedingt ein Trost, wenn das Eingangszitat zum Gelächter rät: „Die Erlösung von der eigenen Irrtumsschwerkraft wird am mühelosesten mit dem Gelächter erreicht, durch das man vom fremden Irrtum behaglich Abstand nimmt.“(Carl Haensel). Der behagliche Abstand verringert sich beachtlich, wenn man im fremden Irrtum den eigenen entdeckt.

 

Unter A findet man sozusagen einen Klassiker des Irrtums, der zwar belanglos ist, aber trotzdem etwas Bange macht, weil hier allein die Menge der Falschinformation das eigene bessere Wissen verdrängt. Es handelt sich dabei um die leidige Geschichte von Eva und ihrem Apfel, der im biblischen Text kein Apfel ist, sondern einfach eine Frucht, eine Frucht, die aber als Apfel ihren Eingang in die abendländische Kulturgeschichte fand und seither das Symbol der Verführung schlechthin ist. Die Vermutung liegt nahe, dass das christlich geprägte Misstrauen gegenüber Sexualität und Lust aus der Frucht einen Apfel machte, denn der Apfel ist ein weit verbreitetes Symbol der Liebe und der Fruchtbarkeit, schreiben die Autoren des Lexikons. Dass sie sich selber ab und zu im Irrtum befinden, wenn sie Irrtümer aufklären, macht die ganze Sache noch vergnüglicher. Man fühlt sich weniger allein.

 

Man liest also getröstet weiter und wird beispielsweise darüber informiert, dass die arabischen Ziffern 1, 2, 3, 4, 5 ... gar nicht von den Arabern stammen, sondern aus Indien. Die Araber brachten sie lediglich von dort mit nach Europa – über Nordafrika und Spanien. Dafür wird den Arabern an einer anderen Stelle etwas zugeordnet, das man bisher nur am Rande wahrnahm: Sie und nicht die europäischen Kolonialmächte waren die grössten Sklavenhändler und -besitzer der Menschheitsgeschichte. Der arabische Sklavenhandel beginnt bereits im 7. und endete erst im 19.Jahrhundert, und er forderte mehr Menschenleben als der europäische, nicht weil er länger dauerte, sondern weil man die Sklaven schlechter behandelte. Die Europäer bekommen dafür an einem anderen Ort wiederum ein weiteres Stück Barbarei zurück: Unter dem Stichwort Skalp ist zu lesen, dass nicht die Indianer, sondern vor allem die Europäer ihre Gegner skalpierten. Die Kopfhaut als Trophäe des Triumphes sei schon im Altertum bekannt gewesen und es sei zu bezweifeln, dass die Indianer von dieser Praxis überhaupt schon vor der Ankunft der Europäer wussten. Plausibel gemacht wird dies auch durch die Tatsache, dass die Europäer für jeden getöteten Indianer eine Prämie kassierten, dafür aber einen Beweis erbringen mussten: seinen Skalp.

 

Dass Hamburger tatsächlich aus Hamburg stammen und von dort nach Amerika gelangten, Fussball keineswegs als Sport der Arbeiterklasse begann, sondern wie früher Tennis und Golf etwas für die betuchte Gesellschaft war, die Guillotine nicht vom Arzt Guillotin „erfunden“ wurde, sondern bereits im alten Persien bekannt war oder die Kamele nicht Wasser, sondern Fett in ihren Höckern speichern, hat man es vorher nicht gewusst, jetzt weiss man es. Und was hat man davon? Abgesehen davon, dass man ein paar wenige Irrtümer aufgibt, im Wissen, dass man sich in Büchern, Zeitungen, Gesprächen täglich neue besorgt? Auch Rousseau hilft da nicht unbedingt weiter: „Das einzige Mittel, den Irrtum zu vermeiden, ist die Unwissenheit“.

 

Der einzige Trost, den dieses Lexikon der populären Irrtümer bietet: die geschilderten Irrtümer sind meistens harmlos. Ein bisschen kränkend zwar, aber harmlos. Und so ist die Lektüre nicht nur betrüblich, sondern auch erheiternd, und das Hindernisrennen durch den Parcours des Wissens bekommt die komisch-traurigen Züge eines Slapstick. Und man legt das Buch weg und macht sich an seine eigene Liste kleiner Denkfehler und kursichtiger Interpretationen wie etwa: Wer viel verdient, kann viel; wer sich zu verkaufen weiss, hat etwas zu bieten; wer mobil ist, kommt weit(er); wer viel leistet, bewirkt etwas, und wer von sozialer Verantwortung spricht, bescheisst nicht bei den Steuern. Und wer bescheissen sagt, ist vulgär und wer im Film Intimacy sitzt und sich frägt, was genau an wortlosem Sex in einem dreckigen Keller so aufregend ist, versteht nichts von Leidenschaft. Man könnte die Liste beliebig verlängern. Und schon morgen sähe die Liste anders aus. Stoff gibt es genug. Die Irrtümer ändern, das Irren bleibt sich gleich und ist nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Aber vielleicht irre ich mich da.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2001 / Kolumne NLZ