36 Gerechte

 

Nur 27 sind es, 27 Gerechte. Sie stehen im Garten des RomeroHauses. Es sind Skulpturen des im luzernischen Bramboden lebenden Künstlers Werner Neuhaus. Sie sind aus Holz. Klein. Stämmig. Schwer. Eine Gruppe, aber eine jede Figur für sich. Ohne Zusammenhang. Keine Gesamtheit, die für etwas stünde. Aber auch keine Einzelnen. Individualität ist nicht erkennbar, auch kein Geschlecht. Die Figuren scheinen undurchdringlich, die Gesichter nur angedeutet, sie bleiben für sich, geben nichts preis. Nur eine Ahnung von hartnäckigem Standhalten, auch mit gebeugtem Nacken. Ausdauer, schwerfälliges Ausharren. Keine Helden, keine grossartigen Gesten, eher ein Stehenbleiben dort, wo man stehen muss, auch wenn man im Wege ist.

 

36 Gerechte braucht es in jeder Generation, damit die Welt besteht. So sieht es eine jüdische Tradition. 36 Gerechte. Eine kleine Zahl. Vernachlässigbar klein. Dass sie sich finden, die 36 Gerechten, ist wahrscheinlich. Auch weiterhin. Vielleicht genügten auch weniger. Abraham handelte die Zahl herunter, von 50 auf 10, damit Sodom und Gomorra bestünden (zu lesen in der Bibel, Genesis 18). Sodom und Gomorra gingen unter, in Schwefel und Feuer. Aber die Welt existiert weiter und mit ihr die 36 Gerechten. Dass sie nichts davon wissen, diese Gerechten, dass ihnen selbst ihr Tun verborgen bleibt, nimmt der Vorstellung das drohende Pathos. Wir werden sie nicht im Kino sehen, die 36 Gerechten, wir werden keine grossartigen Reden hören und keine Detonationen, kühne Helden, Verfolgungsjagden und zertrümmerte Raumschiffe werden uns gestrichen. Wir werde einfach nichts sehen, nur nachdenken müssen.

 

Die 36 Gerechten? Wo es doch „die Gerechtigkeit“ gar nicht gibt und nie gegeben hat? Wo uns die grossen Worte schon längst zwischen den Fingern zerbröselt sind. Oder abgegriffen durch zu häufigen Gebrauch, zerbrochen durch zu grobe Hände, weggeworfen zu den anderen Worten: das Gute, die Liebe, die Solidarität, die Freiheit. Ein müdes Lächeln nur bleibt für die Unverbesserlichen, deren Herz an diesen grossen alten Worten hängt, die nicht einsehen wollen, dass ihre Begriffe leer, ihre Sicht getrübt und ihre Lebensinstrumente veraltet sind. Das Absolute gibt es nicht mehr, nur noch Stücke davon, ein paar glänzende Scherben. An denen schneidet man sich vielleicht.

 

„Die Gerechtigkeit“ gibt es nicht, sagen die Nachdenklichen. Aber die Anstrengung dazu, sagen sie und mühen sich weiter. Jeder für sich, die Leiter anstellen und klettern, sagen die Aufsteiger. Unter geht, wer unten bleibt. Das war, ist und wird bleiben. Ist naturgemäss, oder so. Der Mensch halt. Was kann einer schon tun? Nur weg, aber mit leichtem Gepäck. Gerechtigkeit? Liegen lassen.

 

Es gibt Schlimmere. Die werfen nicht die Idee weg, sondern jene, die dafür stehen. Es ist ein altes Handwerk, weltweit verbreitet: Quälen, töten, wegschaffen. Streichen und Auswischen. Ungestraft. Nur ab und zu ein klein wenig nachträgliches Recht. Keine Gerechtigkeit.

 

Das Wort besser weglassen, nicht aus Zynismus, sondern Verzweiflung? Weil es etwas verspricht, das es nicht gibt? Licht an den Horizont malt, der schwarz ist?

 

Oder es trotzig in den Weg stellen, wie die 27 Holzskulpturen von Werner Neuhaus. Damit man weiss, worum es geht. Damit das Wegschauen nicht so leicht fällt.

 

Die 27 Gerechten im Garten des RomeroHauses. Sie stehen unbeirrt da. Stur. Nicht Mann, nicht Frau, einfach „der Mensch“, den es so wenig gibt wie „die Gerechtigkeit“, aber die Idee davon und die Suche danach. Eine Art Konzentrat, Erinnerung an das, was bleiben muss, damit die Welt ein Ort zum Leben ist. Für alle. Nicht nur für die verschwindend kleine Zahl von Luxuspassagieren, die in voller Fahrt alles zusammenrafft, was es zu kriegen gibt, gemäss der Maxime: „Geld allein macht nicht glücklich. Es gehören auch noch Aktien, Gold und Grundstücke dazu.“ (Danny Kaye)

 

Nur 27 sind es anstatt 36, die da zusammenstehen. 3 sind irgendwo, 6 fehlen immer. Die 6 sind unsere Sache. Das Fehlende zu ergänzen, der Künstler überlässt es uns. Auch dass wir ihnen allen ein Gesicht geben, einen Namen, eine Geschichte.

 

36 Gerechte braucht es, damit die Welt besteht. Verlangt ist nicht viel. Abraham hat keine 10 gefunden. Und doch sind es nur 36, die für etwas stehen sollen, das die ganze unerträgliche Unfähigkeit, das Rechte zu tun, aufwiegt. Das eine gute Haar, das am Menschen gelassen wird, reicht aus. Eine schöne Vorstellung, aber beschämend.

 

Ob die Welt Bestand haben soll? Ob sie es wert ist und damit wir? Ob sich 36 finden lassen, die das Nein aufwiegen mit ihrem Tun? – In der jüdischen Tradition entscheidet Gott. In den Welten, die Gott los sind, entscheiden wir. Auch, ob wir die Vorstellung bewahren, dass Gerechtigkeit unseren Eigennutz regulieren soll, dass wir am Entwurf dessen, was gerecht ist, weiterarbeiten müssen.

 

Noch stehen die 27 Gerechten im Garten des RomeroHauses. Selbst mehr Entwurf als Vollendung. Nicht glatt und nicht schön, unheimlich und beinahe roh. Und wenn sie weg sind, vielleicht ein Aufatmen. Aber man wird sie nicht los. Wie die Gerechtigkeit, wie die Idee davon und der Wunsch danach.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2001 / Kolumne NLZ