Schlüssellochgesellschaft

 

Big Brother, zweite Runde, ohne Aussicht auf ein schnelles Ende. Aber wieso auch? Teil eins war ja ganz toll und nichts gegen Wiederholungen: das ganze Leben besteht daraus. Ein bisschen ratlos darf man trotzdem sein. Man hat gesehen, was es zu sehen gibt, man hat gehört, was es darüber zu sagen gibt und hat gelesen, wie das alles verstanden werden kann. Und trotzdem: Das Ganze nochmals von vorne! Weil es so schön war! Und auch gar kein bisschen beunruhigend. Der grosse Bruder, der über alles wacht, das Schreckensszenario einer Überwachungsdiktatur? Nein, im Gegenteil. Ein Riesenspass, Unterhaltung pur. Nichts mit Kontrolle, Diktatur, Furcht und Selbstzensur. Es wird nicht überwacht, um zu kontrollieren, sondern um zu zeigen ... ja was denn bloss? Was in den Leuten steckt, wenn sie nichts haben als sich selbst? Keine Ablenkungen, keine Anregungen, bloss sich selbst? Damit man ihnen zusehen kann, wie dieser mitgebrachte Schatz – ihr Leben – täglich schrumpft bis auf die Knochen der darin verborgenen Banalität?

 

Das interessiert aber niemanden. Da gehen die Zuschauer/innen verloren und die Einschaltquoten sinken. Aber seit Teil eins wissen wir, was helfen kann: Sex! Und auch die Einschaltquoten, sie steigen und schnellen wieder in die Höh. Streit geht auch. Davon gibt’s mehr und er dauert auch länger.

 

Wir lieben es, durch Schlüssellöcher zu schauen. Nur das Schlüsselloch ist heute kein Loch mehr, sondern eine Fernsehkamera, die uns zeigt, dass die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen vielleicht unsere Nachbarn sind. Und der Prinz ist ein Informatiker und der Informatiker ist vielleicht schwul oder auch nicht, aber wunderwunderschön und Schneewittchen hat eine grosse Klappe und färbt sich die Haare blond und schluckt das Gift nicht, sondern verspritzt es und schaut dem Prinzen nicht mit errötenden Wangen ins begehrende Aug, sondern besteigt ihn.

 

So sind heute die Märchen, die von der Realität handeln: Es waren einmal ein paar Frauen und Männer und die mussten monatelang zusammenwohnen, und sie langweilten sich ganz furchtbar, und weil sie sich ganz furchtbar langweilten, weil das blosse Sein auf dem Sofa tatsächlich furchtbar langweilig ist, da taten sie ganz furchtbar viel reden über ganz wahnsinnig wichtige Themen und taten allerlei interessante Dinge wie Zähne putzen und kochen und duschen und im Bett liegen und herumstehen und die Zeit totschlagen, die nicht totzukriegen war, und wir, wenn wir nicht längst abgeschaltet hatten, wir konnten uns echt megazentrale Fragen stellen wie etwa: Was ist der Mensch, wenn er im Fernsehen kommt und es weiss und dann doch manchmal vergisst und ein Mensch wird, der keine Hemmungen hat, im Fernsehen zu kommen, weil er vergisst, dass er im Fernsehen ist und vielleicht doch gut daran täte, Hemmungen zu haben, weil er im Fernsehen ist?

 

Diese gnadenlose Gewöhnlichkeit, wollten wir sie sehen? Und wenn wir sie gesehen haben, wissen wir dann mehr? Über uns? Ausser, dass wir nun einen Grund mehr haben, Misanthropen zu sein und zu denken: Das ist der Mensch? Das sind wir? Wie jämmerlich! Wie armselig!

 

Gäbe es doch irgendwo ein Loch, um uns zu verkriechen. Und dann filmen wir es. Das Verkriechen und das Loch!

 

Aber ernsthaft: Das Schlüsselloch gehört zum Menschen wie das Verbot und die Neugier. Es vermittelt die beiden. Ohne diese kleine Allianz zwischen Verbot und Grenzüberschreitung wäre das Schauen nur halb so aufregend. Etwas zu sehen und zu hören, das sich verstecken will, das bringt uns so richtig in Schwung. Und Fernsehen und Internet sei Dank, gibt es das Private bald nicht mehr und keinen Schleier über gar nichts.

 

Man braucht keine Philosophin zu sein, um einzusehen, dass das nicht gut gehen kann. Wiederholte Blicke durch Schlüssellöcher auf die Rohfassung Mensch zerstören, wovon sie leben: das Geheimnis.

 

Aber wir haben gelernt: Geheimnisse zu haben ist unanständig. Und wir haben es eingesehen und sind nun eine grosse aufgeklärte Fernsehgemeinschaft von Ehrlichen und Auskunftswilligen. Wir nehmen kein Blatt vor den Mund, wir sagen uns die Wahrheit, schonungslos, also ganz knallhart, so gerade ins Gesicht, von morgens bis in den späten Nachmittag. Wenn’s um die Wahrheit geht, gibt’s kein Halten mehr. Man kann sich vor lauter Wahrheit gar nicht mehr retten. Das geht natürlich in der Nacht weiter, mit dieser Wahrheit, vor allem mit der nackten. Und nackt ist uns die Wahrheit sowieso am liebsten. Bar jedwelchen Kostüms. Wie im Paradies, vor den Feigenblattzeiten, den trostlosen.

 

Aber das ist ja alles ganz anders, wenn man’s recht bedenkt. Das Schlüsselloch gibt es eigentlich gar nicht mehr, weil die grosse Ehrlichkeit grassiert. Ehrlich, das heisst ungefiltert, ungeschminkt, so aus dem Bauch raus und der Hose und wie einem der Schnabel gewachsen ist, wo wir doch alle offenbar irgendwie Tierchen sind und Kontrolle sowieso nichts als Lüge. Und du sollst ja nicht lügen und ich auch nicht.

 

Aber ich weiss nicht so recht, was soll das alles bedeuten. Hinter die Schleier gucken und unter das Feigenblatt und an der Tür horchen und in die Zellkerne schauen. Ich kann das ja alles verstehen, und ich schaue ja auch irgendwie hin und auch wieder weg, aber alles in allem wäre mir lieber, die Leute wären etwas weniger ehrlich. Es würde mir leichter fallen, sie zu mögen.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2001 / Kolumne NLZ