Wer ein Volk kennenlernen will ...

 

"Wenn du ein Volk kennenlernen willst, schau in seine Mülleimer", sagt ein afrikanisches Sprichwort. Es muss kein ganzes Volk sein, der eigene Mülleimer genügt an sich schon. Spätestens nach Weihnachten könnte man rot werden und nach Entschuldigungen suchen. Und die Entschuldigungen sind gar nicht mal übel, bloss die Mülleimer, die hören nicht auf zu stinken.

 

Um ein Volk kennenzulernen, muss man aber nicht unbedingt in seine Mülleimer schauen, man kann es durchaus auch kennenlernen, wenn man seine Fernsehprogramme studiert. Nicht, dass das Resultat unbedingt erfreulicher ist, aber immer noch besser, Big Brother anzuschauen, als Brot fortzuwerfen.

 

Diese Meinung wird natürlich nicht von allen geteilt. Denn immerhin liesse sich Brot noch kompostieren und damit einem wenn auch geringeren Nutzen zuführen. Big Brother hingegen verwandelt sich in gar nichts Brauchbares mehr – höchstens in seine eigene Wiederholung.

 

Es gibt Leute, durchwegs sehr gescheite, die sind überzeugt, dass Fernsehen dumm macht und es an Risiken und Nebenwirkungen mit jedem Arzneimittel aufnehmen kann. Bloss dass in der buntbebilderten Packungsbeilage nichts von schädlichen Nebenwirkungen steht und auch niemand aufgefordert wird, seinen Arzt oder seine Apothekerin zu konsultieren.

 

Dumm ist nur, dass die gescheiten Leute glauben, das Fernsehen mache bloss die andern dumm. Sie selber entgehen diesem unwürdigen Schicksal offensichtlich dank eines hervorragenden Filtersystems: ihrer Intelligenz und Einzigartigkeit. Die dummen Fernsehzuschauer und -zuschauerinnen würden es vielleicht Hochmut nennen, was gar nicht mal so dumm ist.

 

Das Fernsehen, das ist klar, macht uns nicht dümmer als wir schon sind. Es hilft uns höchstens, dass wir uns dabei so richtig wohl fühlen. Das ist natürlich gleichzeitig wahr und ungerecht: Es gibt zwar viele spannende, kluge, aufschlussreiche, informative und interessante Beiträge, Filme und Diskussionen, die einen angereichert mit bildendem Mehrwert vom Schirm entlassen. Aber es gibt natürlich auch eine Unmenge an krassen Peinlichkeiten und mehr als genug Anlässe, sich zu fragen, weshalb uns die Evolution auf ihrem langen und beschwerlichen Weg mit einer Grosshirnrinde gesegnet hat, wenn wir offensichtlich doch nichts Rechtes damit anzufangen wissen. Und trotzdem: Trau keinem, der dir sagt, er schaut nur die Tageschau, ab und zu eine politische Sendung oder vielleicht mal einen Dokumentarfilme über die Karpaten oder so. Anspruchsvolle Dinge halt. Es ist die zensurierte Version!

 

Eine häufig geäusserte Beschwerde in Sachen Fernsehprogramm ist ein konsterniertes: „Es kommt einfach nichts.“ Aber das ist nicht wahr. Es ist nicht wahr, dass im Fernsehen nichts kommt, es kommt alles, sogar alles mögliche. Ein Beispiel: Sonntag, 17.Dezember, 16.15 Uhr in tm3 die Sendung „Leben und Wohnen. „Themen u.a.: Heilung aus der Steckdose / Soja / Alles fürs Immunsystem / Leben mit Brustkrebs / Tipps gegen Liebeskummer / Festliches Make-up / Tischdekoration / Kochen mit Christian Henze – Fischcurry mit Glasnudelsalat“.

 

Alle grossen Themen sind da, in einer einzigen Sendung: Heilung, Gesundheit, Krankheit und Tod, Liebe, Schönheit, Ästhetik, Genuss. Und sie sind zusammengefasst und unter einem Horizont vereint: Leben und Wohnen. Das ist doch schön und tröstlich.

 

Spannend ist ja immer die Frage: Was programmieren die Sendeanstalten an Weihnachten, Karfreitag oder Ostern. An Tagen, wo der Himmel für einmal noch etwas mehr zu sein verspricht als ein Fernsehbilderlieferant.

 

Ein eindeutiger Befund lässt sich nicht aus den Programmen lesen. Das Fernsehen bleibt sich treu. Es wird weder plötzlich fromm, noch erfüllt es einen religionspädagogischen Auftrag im Sinne von, wenn schon Weihnachten, dann weihen wir dieser Nacht ein bisschen filmische Menschenfreundlichkeit. Das Fernsehen zeigt, was es immer zeigt: eine Mischung aus Liebe, Gewalt, Sport, Märchen, Lachen und Kultur. Ein bisschen weniger Sex als sonst, etwas weniger Gewalt als sonst, ansonsten nichts, was ausserhalb des Üblichen läge. Muss es wohl auch nicht. Wer fern sieht, hat selber das Nachsehen.

 

Wer ein Volk kennenlernen will, muss seine Fernsehprogramme studieren und wird schnell sehen: Vor dem Fernseher sind so ziemlich alle gleich, kein grosser Unterschied auszumachen. Das Individuum, das stolze, verdünnt sich in der Vielfalt des eigentlich Gleichen zu einem Wesen, das ist wie alle anderen auch.

 

„Auf der Erde leben eineundeinedreiviertel Milliarde Menschen“ schrieb Kurt Tucholsky 1931, „– und im Grunde denkt jeder, er sei ganz allein, was die Qualität anbetrifft ... So schön wie ich das kann ... Verlass dich drauf: der andere kann das alles auch ...“

 

Alle spielen wir einmaliges Individuum, aber so faszinierend verschieden sind wir ja nicht, und wenn man unsere kleinen Vorlieben und Eigenheiten, gespiegelt in unserer Fernsehschaulust, betrachtet, muss man Tucholsky Recht geben: „Die Übereinstimmungen [sind] so gross, dass man glauben sollte, die Menschen würden in Serien hergestellt.“

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2001 / Kolumne NLZ