"Denke daran, dass du sterben musst"

 

Es gibt kein richtiges Reden über den Tod. Und doch muss man reden. Nicht reden lässt ihn nicht verschwinden. Aber er ist zu endgültig, zu gross, als dass man sich traute, Fehler zu machen. Die Worte werden schnell grob, beschämend unbeholfen, schäbig.

 

Der Tod ist zu vieles auf einmal. Sagt man das eine, verschweigt man das andere; was richtig ist, ist zugleich zynisch, was tröstlich, gleichzeitig grausam. Es stimmt nicht, dass im Tod alle gleich sind – zu unterschiedlich sind die Arten, wie wir sterben. Oder wie es Chenjerai Hove formuliert: "Der Weg der Geburt ist für uns alle der gleiche, doch Wege zum Tod gibt es so viele."(Schattenlicht, München 1996).

 

Was uns gleicht macht, ist, dass er uns allen im Nacken sitzt oder auf der Brust. Ungebeten begleitet er uns, wird Alptraum oder auch heimlicher Freund. Er ist das, was niemand verhindern kann. Die Nacht, die aufgeht über allen, unterschiedslos. Oder auch der Tag, der lange erhoffte, je nachdem.

 

Memento Mori

 

Es gibt unzählbare Versuche, mit dem Tod zurechtzukommen. Das abgebrochene Leben beschäftigt alle, die wissen, dass sie sterben werden. Reich sind unsere Vorstellungswelten, wenn es um die letzte grosse Reise geht: Es werden Wege gegangen und Flüsse überquert, es wird umhergeirrt, hinaufgestiegen, hinabgestiegen, ein paradiesisches Land erreicht, und manchmal wird schon vorher, ins Leben, in seinen Hintergrund, der kommende Tod gemalt.

 

Unsere christliche Tradition kennt eigentümlich intime Bilder der Verbindung des Lebens mit seinem Tod. Der Totentanz etwa oder die "Memento Mori"-Bilder („Denke daran, dass du sterben musst“) führen das deutlich vor Augen.

 

Während der Totentanz den Tod mitten ins Leben setzt, als Begleiter, als Schatten, als Gast, der immer und überall dabei ist, so rücken ihn die Memento Mori Bilder noch ein Stück näher, setzen ihn auf die Rückseite des Lebens – als Bild auf die Hinterseite eines Gewandes, eines Spiegels, eines Portraits oder einer Münze. Der Tod – neben uns, hinter unserem Rücken, unter unserer Oberfläche – arbeitet an unserem Ende. Während wir die einfachsten oder die grossartigsten Dinge tun, steht er neben uns und wartet, bis seine Zeit kommt.

 

Wie auch immer er in unserem Leben vorkommt – als Angsttraum, Ruhetraum, Ende von Schmerz, Überdruss – immer stellt der Tod unser Leben bloss, macht es nackt: Was ist es, dieses Leben, und was bleibt ihm noch? Was ist es wert, noch wert? Was müssen wir unbedingt tun, bis er uns holt, einholt, abbricht vom Leben, wegzerrt, zerstört, erlöst?

 

Wer wir sind

 

"Denke daran, dass du sterben musst", dass du nicht ewig Zeit hast, nicht vor dem Tod. Nachher vielleicht, in unserer Tradition jedenfalls, aber vorher nicht. Ob die Nornen den Faden abschneiden, Gott die Zeit festsetzt, der Tod uns einfach holt oder zustösst, er greift sich nicht unser Ende, sondern das ganze Leben: indem wir in seinem Angesicht leben und uns fürchten oder es erst recht geniessen; indem wir das Leben als geliehenes betrachten, als geschenktes oder als unser gutes Recht, das wir nicht mehr hergeben wollen.

 

Sprechen wir vom Tod, so sprechen wir von unserem Leben: von dem, was es uns wert ist, von dem, was wir nicht aufgeben wollen, davon, was unsere Substanz ausmacht und unser Rückgrat.

 

Das Spektrum unseres Redens verändert sich mit uns. Die alten Bilder verblassen: Der Tod ist nicht mehr Dantes alter Fährmann, der uns die Anker lichtet, nicht Sensemann oder der Schritt vor das grosse Gericht. Der alte Knochenmann, er hat sich überlebt, ist allenfalls zum Animator mutiert, der hilft, noch die letzten Möglichkeiten aus dem Leben herauszuholen. Dass er ein treuer Begleiter bleibt – drohend, verlockend, unberechenbar – ist so sicher nicht. Die Wissenschaft arbeitet selbstbewusst an seinem Ende. Das ewige Leben im Blick experimentiert sie für die alten Träume von Unsterblichkeit. Natürlich bleibt uns der Tod samt Zynismus erhalten: Platz geschaffen wird weiterhin, denn schliesslich, das leuchtet allen ein, ist die Platzzahl hienieden beschränkt.

 

Christliches Misstrauen

 

Oft wird der christlichen Tradition vorgeworfen, sie möge das Leben nicht, sie misstraue Vergnügen, Lust und Leichtigkeit; mit ihren Bildern vom Tod als Erzieher, Dauergast, Schatten und Lebensbegleiter missachte sie seine Freiheit, Schönheit und Intensität und setze ihm, voller Häme, sein Ende mitten ins Herz.

 

Natürlich stimmt das. Der Tod wurde zum grossen Spielverderber, der im Rücken des Lebens schwächt, was selbstvergessen lebendig ist. Aber auch das Gegenteil ist wahr: Der Tod, der das Leben unendlich kostbar macht und durch nichts jemals aufwiegbar; ein Lebensbegleiter, der ab und zu auf die Uhr schaut und erinnernd auf die Schulter klopft. So spät schon?

 

Der Türsteher Tod

 

Das Leben als letzte Gelegenheit – weil nichts mehr kommt, weil vielleicht etwas kommt, aber etwas ganz anderes, weil, was kommt, abhängt von dem, was jetzt ist ... wie auch immer, der Tod ist am Ende und vorerst noch der Türsteher und Rausschmeisser. Man muss an ihm vorbei, auf irgendeine Weise. Man weiss, er steht dort, und was hier ist, wird dort enden. Er stellt uns vor die Wahl: Vergesst mich, holt alles aus eurem Leben heraus, fordert mich heraus, balanciert auf meiner Schwelle, kommt mir entgegen, ignoriert mich, bekämpft mich, erwartet mich, bettelt um mich, was immer ihr tut, es ändert nichts. Vorbeikommen werdet ihr schlussendlich alle.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2000 / Kolumne NLZ