Warum sind die bloss nicht so wie ich?

 

Man könnte das immer wieder spontan auftauchende Befremden über das Tun und Lassen seiner ZeitgenossInnen kurz zusammengefasst so formulieren: Weshalb sind die bloss nicht so wie ich?

 

Das kann nun natürlich nicht ernst gemeint sein dürfen. Die einzige Entschuldigung, die mir einfällt: Ferien! Schliesslich sind ja Gutwilligkeit und Wohlwollen nichts natürlich Gewachsenes, sondern hart und täglich Erarbeitetes, und auch der Drang, alles und jedes zu verstehen, oder mindestens zu bedenken, muss sich einmal ausklinken können aus dem Zwang zur Ernsthaftigkeit. Das Verhältnis ist ja nicht schlecht: Neunundvierzig Wochen im Jahr der Versuch, die näheren Mit- und die abstrakteren Fernmenschen zu verstehen und blosse drei Wochen unverhüllte Misanthropie. Scheint mir akzeptabel. Nicht unbedingt optimal, aber akzeptabel.

 

Ferien. Nicht die schlechteste Zeit, um in eine Pizza zu beissen und sich gleichzeitig das Maul über seine Mitmenschen zu zerreissen. Stoff gibt es mehr als genug. Er wird einem gratis geliefert. Man muss nur hinsehen, was dieses befremdend vertraute Ferienvolk an Sitten und Gebräuchen freigiebig herzeigt, unzensuriert durch Geschmack und Stil. Und ist man dann noch in der absolut privilegierten Situation, eine Terrasse mit Blick auf See und Badende für kurze Ferienzeit sein eigen nennen zu können, so sind Anschauungsmaterial und -unterricht keine Grenzen gesetzt. Man kann aus dem Vollen schöpfen. Und gestattet man sich einen nüchternen Blick, ohne den sonst üblichen gnädigen Weichzeichner – wir sind doch alle imgrunde verlorene Seelen in einem scheinbar gleichgültigen Universum, dann gibt es einfach viel zu viele Gründe für Spott.

 

Schon allein die allenthalben zu beobachtende weibliche Lust, sich jeden Quadratzentimeter Haut zu bräunen, und ausnahmslos jeden, was nicht nur zu andauernden Badeanzugverschiebungsaktionen führt, sondern zu beinahe perfekt auf den jeweiligen Sonnenstand abgestimmte Haltungskorrekturen. Was der Frau die Hingabe an die Sonne, ist dem Mann seine Augenlust. Meist hinter dunklen Gläsern verborgen gehen die Augen auf die Weide, dezente Drehbewegungen mit dem Kopf, veränderte Liegehaltung, sobald ein geeignet schönes Objekt der Begierde ins Gesichts- oder Liegefeld rückt – etwas gröber das Ganze natürlich, wenn keine Zensur in Form von Frau, Kind oder Freundin die Aktionen begleitet. Nicht, dass Frauen keine Augen im Kopf hätten und nicht durchaus wüssten, mit den Augen zu geniessen, aber der Hang zum Schauen scheint noch immer hinter dem Hang, sich zu zeigen, zurückzustehen. Wie auch immer: Das ist alles ja ausserordentlich normal und nicht weiter erstaunlich, und all diese kleinen erotischen Petitessen machen ja schliesslich einen der Reize des Sommers aus.

 

Mit dem Schauen habe ich kein Problem, was ich einfach nicht verstehen kann, ist der offensichtlich übermächtige Drang, sich zu bewegen, und wenn es denn nur irgend geht laut! Jeden Morgen dasselbe Ritual vor meiner Nase. Mann kommt, paddelt mit Gummiboot zu Motorboot, deckt es ab, löst es von der Boje, bereitet alles vor für die grosse kleine Reise den See hinunter oder wohin auch immer, jedenfalls weit kann es nicht sein, derweil warten am Steg Frau, Kinder, Freundinnen oder Grossmütter und Taschen, jede Menge Taschen – denn schliesslich braucht es ja einiges für die tägliche abenteuerliche Fahrt, wohin auch immer, aber weit kann es nicht sein. Am Abend dasselbe in umgekehrter Richtung. Ich bin sicher, es gibt eine Studie über das Verhalten des grossstädtischen Mannes angesichts der Verfügungsgewalt über ein Steuerrad, mit einem Unterkapitel über Motorboote. Und mit dem Drang zur genetischen Herleitung von allem und jedem entdeckt man vielleicht sogar irgendwann ein spezielles männliches Lenk- und Leitungsgen, das Männer dazu drängt, nicht nur Auto- und andere Räder in Händen zu halten, sondern generell an allem zu drehen, was Richtung, Position und Ziele definiert.

 

Und dann gäbe es sicher auch das entsprechende weibliche Pendent zu entdecken, dieses Hinterhertrotten, das Lass-ihn-doch-das-Machen-Gen, das den verbreiteten weiblichen Hang erklären würde, sich mit dem Nebensitz zu begnügen, während er steuert. Ins gleiche Kapitel gehörte dann sicherlich auch die abendliche Fortsetzung des Ganzen: Ein Mann ein Grill, eine Frau ein Salatblatt. Aus dem Mann, dem Jäger, wird ein Fleischwender am Grill und aus der Frau, Sammlerin von Wurzeln und Beeren und Kultiviererin von Nutzpflanzen, wird eine Salat- und Dessertbereiterin. Ein langer Weg, aber das Ergebnis so neu nun auch wieder nicht.

 

Aber eigentlich wollte ich ja nur Folgendes sagen: Warum sind die Leute bloss nicht so wie ich, klappen den Liegestuhl auf, nehmen einen Krimi in die Hand und dann nichts wie weg. Keinen Motor anlassen, keine Segel setzen und erst noch weiter kommen als bis ans Ende des Sees oder in den nächsten Hafen: bis nach San Diego oder Chicago, hinauf nach Schweden oder hinunter nach Sizilien. Jede Menge interessante und kluge Leute kennenlernen, plus das amerikanische Gerichtswesen und die schwedische Post, nebenbei etwas Gerichtspathologie und Kinderpsychologie, den einen und anderen Serienmörder fassen und eingeweiht werden in die Geheimnisse des Diamantenhandels. Neben den kriminalistischen und ab und zu sogar allgemeinmenschlichen Erkenntnissen auch die eine und andere erotische Eskapade, und das alles auf ein paar Hundert Seiten Papier, nicht erlebt, aber erlesen, und wer meint, das Leben sei allemal mehr als das Lesen, hat vielleicht mehr Recht, aber nicht unbedingt mehr Spass.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2000 / Kolumne NLZ