Genetische Wünsche

 

"Wir werden 360 Jahre alt", so oder ähnlich wurde uns letzthin die Zukunft gelesen, nicht als drohendes Unglück und nicht, um uns zu erschrecken, sondern als Grund zur Freude: 97% unseres Genoms sei jetzt entschlüsselt und der weiteren Bearbeitung zugeführt. Dass zwischen Schlagzeile, wissenschaftlicher Arbeit und letztendlicher Realisierung noch Welten liegen, macht nichts; die Hauptsache ist, wir machen gleich mal eine Wunschliste.

 

Kein Fortschritt ohne wahnwitzige Träume, Gewinnverheissungen und Schreckensvisionen. Für jene, die mit dem Glauben gesegnet sind, dass solches Wissen in jedem Fall ein Gut ist, und, so Gen will, vielleicht sogar auch gutes Geld, lässt sich dies alles zweifelsohne vergleichen mit der Mondlandung oder der Erfindung des Rades. Wieder einmal wird ein unbekanntes Land erobert, aber diesmal eines, zu dem man seit jeher in intimster Beziehung stand.

 

Seit Jahrhunderten schon erkunden wir uns selbst – unser Denken, Verhalten, Wollen, Tun. Grossartige und weitschweifende Theorien wurden entwickelt, um das Dunkel in und um den Menschen aufzuklären, und nun soll also des Rätsels Lösung in ein paar Eiweissverbindungen liegen? Nichts gegen Proteine, aber ein bisschen enttäuschend ist das schon. Was man bisher herausgefunden hat, ist vielleicht wahnsinnig, aber nicht wahnsinnig viel: ein Bauplan aus Buchstabenfolgen, die bisher noch keinen vernünftigen Text ergeben. Aber es wird doch schon beachtlich damit gedichtet, und auch die alten Träume treten wieder an den Bühnenrand und deklamieren mit unverblümtem Pathos ihren Text vom perfekten Menschen, dem Ende der Krankheiten, dem Aufschieben von Alter und Tod. Und das Leben, wie wir es kennen, wird endlich ein Ende haben – also keines!

 

Aber da sind wir noch nicht, und ob wir da hin wollen – na ja, es fragt uns bisher keiner. Eine Dispens vom Denken ist das trotzdem nicht. Viele von uns verstehen vielleicht nichts von dem, womit diese Techniker in ihren Labors und Computerzentralen hantieren, aber sie verstehen etwas von Händen und dass sie jeweils nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Wir nehmen zur Kenntnis, dass in unseren Genen nicht nur Erbinformationen, sondern auch Börsen- und andere Gewinne stecken. Wir trauen Versicherungen und Arbeitgebern durchaus zu, dass sie aus unseren Genkarten ihren Vorteil lesen. Wir wissen, dass Geld Moral oft in die Knie zwingt und unsere Vorbehalte nicht als würdige Gegner gelten. Wir sind nicht abgeneigt zu vermuten, dass es Wissenschaftler gibt, die eitler sind als uns allen gut tut. Weshalb glauben wir denn, am genetischen Code herumbasteln zu dürfen, fragt Eric Lander, Leiter des Whitehead-M.I.T.Centers for Genome Research in einem Interview. Ist es nicht verrückt? Wir beginnen einen 3,5 Milliarden alten genetischen Text zu lesen und schon sagen wir: „Hey, ich denke, ich kann das verbessern.“(TIME, Mapping the Genome, 3. Juli 2000)

 

Aber es ist nun mal erneut eine Türe aufgegangen zu einem neuen Raum und man hat hineinschauen können und man hat verheissungsvolle Dinge gesehen und man wird die Türe nicht mehr schliessen und so tun, als sei nichts gewesen. Und wieso auch? Wenn hier das Glück wartet in Form von Gesundheit, eines langen Lebens, ewiger Jugend und Makellosigkeit? Für jene, die es sich werden leisten können, muss man hinzufügen: Die Mehrheit der Menschheit wird nicht davon profitieren. Die Genommedizin beschäftigt sich mit den "Goldeseln der Zukunft" und das sind die häufigsten Todesursachen und Zivilisationskrankheiten in der westlichen Welt.

 

Nur drei bis fünf Prozente der DNA enthalten die wertvollen Erbinformationen, sagen uns die ExpertInnen, mit dem Rest weiss man nichts anzufangen und bezeichnet ihn kurzerhand als Biomüll. Aber auch das, was jetzt zu sehen ist, ist noch lange nicht verstanden. Jahrzehnte wird es dauern, die Gene zu studieren und herauszufinden, welche Rolle sie bei Krankheiten spielen und das Erkennen ihrer genetischer Ursachen ist noch nicht die hilfreiche Therapie. Das verheissene Glück wird noch etwas auf sich warten lassen, aber die Anleitung zum glücklichen Leben ist trotzdem schon geschrieben: Der Mensch ist im Kern reparabel, sein Bauplan in Form einer "Gebrauchsanweisung" liegt vor, der Tod wird zu einer „Serie verhinderbarer Krankheiten" und unserer genetischen Optimierung steht nichts im Wege – höchstens wir selbst. Aber mit unserer Standfestigkeit ist es nicht weit her, meinen die Experten. Die Technologie ist zum "Akteur gekrönt worden – als wäre sie eine Art wollendes Wesen, das sich gegen den Willen ihrer Erfinder verselbständigen könne. 'Dabei ist sie immer schon ein Werkzeug des Menschen gewesen ... und ein Werkzeug kann man liegen lassen.'"(Spiegel)

 

Aber das wird nicht geschehen. Die Reproduktionsmedizin übt sich bereits in dem, was befürchtet wird: in privater Eugenik. Es wird bereits ausgewählt und weggeworfen. Das Kind als herstellbares Produkt, das nicht dem Zufallsroulette der Natur entstammt, sondern den Wunschlisten seiner Eltern, wird sich verbreiten und bald einmal zum Alltag gehören, meinen die Experten. Und an den Selektionskriterien werden wir wieder einmal ablesen können, wer wir sind, was wir wollen und was uns das Wichtigste ist.

 

Dieser Text wird einfacher zu lesen sein als die DNA.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2000 / Kolumne NLZ