Wer sich nicht bewegt, bleibt sitzen

 

Wir spinnen – aber das ist ganz wunderbar. Denn wir spinnen nicht im Kopf, sondern elektronisch. Stolz und zuversichtlich sagen wir „Netz“, „Vernetzung“, „Internet“ und wir finden diese Netze ganz toll, denn sie knüpfen und weben pausenlos Verbindungen und garantieren Beziehung und Information und allerlei Nützliches und Unnützes selbstverständlich auch.

 

Wir sitzen an Ort, bewegen ein paar Finger und holen die Welt ein – mit nichts als einem Netz. Das ist aufregend! Nur ab und zu, im Zustand gemässigter Euphorie, schwant uns, dass wir dabei unter Umständen nicht die FischerInnen sind, sondern die Fische, wenn auch die kleinen, nicht die Spinne, sondern das Insekt, das sich verfängt.

 

Aber das vergessen wir schnell wieder. Die Hauptsache ist, wir können uns bewegen. Darüber zu brüten, ob wir jemandem ins Netz gehen, wenn wir im Netz sind, ist etwa so sinnvoll, wie mit angezogener Handbremse zu fahren. Wir fahren ja doch mit, freiwillig oder notgedrungen. Unser Bewegungsdrang scheint enorm und wenn es um Neues geht, dann legen die meisten gerne einen Sprint hin, um es zu erwischen. Schon lange steht nicht mehr das Neue, sondern das Alte unter Rechtfertigungszwang und innere Vorbehalte und ein diffuses Unbehagen eignen sich dabei denkbar schlecht zum Argument; sie werden in der Regel als Entwicklungsdefizite betrachtet. Und entwickelt wird so oder so und der führende Kopf des Ganzen ist natürlich der Kopf. Und auch wenn man diesen Körperteil ausserordentlich mag und von seinem unschätzbaren Nutzen überzeugt ist, so schliesst das keineswegs aus, dass man sich nicht auch ab und zu ein bisschen Häme gönnen darf, wenn ihn die Naivität des Herzens kapitulieren lässt: Ein einziges „I love you“ und er vergisst sich, wird schwach und stürzt kurzerhand ab.

 

Tag für Tag kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Da hat man sich früher gewundert über Leute, die auf der Strasse vor sich hin reden, und heute, ausgerüstet mit diesem kleinen schwatzhaften Gerät, gelten sie als kerngesund: kein Fall mehr für die Therapie, sondern die Zukunft. Starrt eine gebannt nach unten, auf die Hand, kein Blick links, keiner rechts, nach vorne schon gar nicht, dann wählt sie; hält sich einer die Hand an die Backe, dann hat er keine Zahnschmerzen, sondern telefoniert. Was müssen die Leute sich doch alles zu sagen haben!

 

Natürlich hat man inzwischen genügend Zeit gehabt, sich an dieses handliche Leben mit seinen für Unbeteiligte nicht immer angenehmen musikalischen und verbalen Absonderungen zu gewöhnen. Bei anderem gelingt das vielleicht noch nicht so routiniert. Da gibt es ja inzwischen dieses Dauerbedürfnis, sich auf Rädern fortzubewegen. Nicht nur auf der Strasse, auch innerhalb der Schutzzone, die für jene reserviert schien, die auf ihren zwei Füssen nicht rollen, sondern ganz einfach gehen. Rollbretter, Skates, für die Kids und bewegten Erwachsenen – wieso nicht; sie sind nicht ganz ungefährlich, aber immerhin stinken sie nicht. Man kann sie auch relativ problemlos unter der Rubrik Sport und Freizeit einordnen, das erhöht die Akzeptanz. Schwieriger wird es bei jener, früher nur von Kindern genutzten Fortbewegungsart, die die Erwachsenen jetzt beinahe über Nacht massenhaft zu befallen scheint: das Fahren auf den Mini-Trottinetten oder Micro Scooters. Das Bedürfnis zu rollen anstatt zu gehen, kann es nicht sein, das die eine und den anderen befremdet, und ein Fahrzeug zu fahren, das kein Benzin verbraucht und keinen Strom, das keinen Parkplatz benötigt und das man bequem unter den Arm klemmen kann, ist schliesslich ausserordentlich vernünftig. Es ist bloss eigenartig. Was wir als Kinder für eine Vorstufe zum Velo betrachteten, als Deklassierung, als noch nicht, für Kinder halt, ist heute voll im Trend – nicht für die Kleinen, sondern für die Grossen. Vor zehn Jahren hätten wir darüber gelacht, heute verstehen wir bloss einmal mehr die Welt nicht mehr.

 

Nur ist die Welt verstehen wollen vielleicht dasselbe wie zu Fuss gehen, wenn man fahren kann. Irgendwie ganz nett, aber halt, na ja, wie soll man dem sagen: kurios. An und für sich nichts dagegen einzuwenden, aber man kann es gerade so gut lassen. Bringt eh nichts oder bringt’s nicht. Was tatsächlich wahr ist, bringt nichts, ausser Schwierigkeiten. Die Welt ist manchmal ein sehr unangenehmer Besuch, überrascht uns auf dem Sofa mit ihren erschreckenden Einzelheiten. Darum ist Bewegung auch so wichtig. Man bietet keine Zielscheibe und wird nur selten getroffen.

 

Aber natürlich heisst die Welt verstehen in erster Linie die Menschen verstehen, was die Sache ja nun auch nicht leichter macht, aber überschaubarer. Für den Philosophen Pascal, der sich in seinen Pensées mit der Grösse und dem Elend des Menschen beschäftigte, rührt das Unglück der Menschen von einem einzigen her: „dass sie es nämlich nicht verstehen, in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben.“ Wer in Bewegung ist, vermindert die Zeit, sich zu fragen, was damit insgesamt erreicht wird und ob es sich lohnt.

 

Für meine Tochter sind solche nörglerischen Fragen Spielverderberei – sie vermutet dahinter, zu Recht, einen gewissen Neid auf unbeschwerte Welt-und Selbstvergessenheit und hält mich einfach für altmodisch, was ich gerne bestätige. Ich halte es mit Erich Kästner, der hinter allem Beeindruckenden der menschlichen Entwicklung, hinter dem gebildeten Stern mit sehr viel Wasserspülung, doch immer wieder auf das Alte stösst:

 

„So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.“

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2000 / Kolumne NLZ