Ein Reifezeugnis der Demokratie

 

Mit Abstimmungswochenenden ist es so eine Sache. Man weiss zwar wieder einmal, woran man ist, woran die Mehrheit ist, aber vielleicht wollte man es ja gar nicht so genau wissen.

 

Des Volkes Wille hat gesprochen, und der Bundesrat darf wieder einmal stolz sein auf sein Volk, denn es ist ein mündiges, ein reifes Volk. Wenigstens die Mehrheit, die überdeutliche, die klare, die haushohe.

 

Das ist schön. Reife ist ja sozusagen die Krönung des Erwachsenendaseins – in der Welt ankommen, das Schiff verankern, den Ernst der Lage erkennen, sich mit den realen Möglichkeiten arrangieren, also Mangel aushalten, Träume realisieren, andere begraben, Vor- und Nachteile einer Sache bedenken, besonnen agieren, überlegt handeln, mit einer gewissen Gelassenheit, in geordneten Bahnen ? "aufgegleist" sein und fahren, weiter und immer weiter bis zum letzten Halt. Dass für viele erwachsen werden eher Alp- als Wunschtraum ist, ist nicht schwer zu verstehen.

 

Das Schweizervolk aber, es hat Reife gezeigt, das heisst: Es weiss sich zu mässigen, verliert seine Interessen trotzdem nicht aus den Augen, es lässt sich und anstehenden Problemen viel Zeit, es hat im Grossen und Ganzen Realitätssinn, was sich zusammenfassen liesse als Absage an radikale Ideen und visionäre Alternativen. In einer Zeit, in der ansonsten Beschleunigungszwang herrscht, Verpflichtung zu Innovation und Risikobereitschaft steht das zwar eigenartig quer, wird aber im Abstimmungsfall honoriert.

 

Abstimmungen sind Spiegel; was wir darin sehen sind Problemlösungen, die mehrheitsfähig sind. Das Erscheinungsbild im Spiegel gefällt nicht allen, aber das ist nicht der Sinn von Demokratie, dass das, was entschieden wird, allen gefällt. Eine Mehrheit reicht. Niemand kann einen aber zwingen zu glauben, dass das Mehrheitsfähige gleichzeitig das Richtige ist. Es ist einfach das, womit alle leben müssen, bis zum nächsten Abstimmungstermin.

 

In einer Demokratie lebt man nicht in der besten aller Welten, aber, trotz Mängeln, wahrscheinlich im besten aller politischen Systeme. Sich zu wundern bleibt dennoch erlaubt. Sich zu wundern über gewisse Entscheidungen und über die Kommentare, die dazu zu lesen sind.

 

„Beim Auto hält man zusammen“ (Tages Anzeiger), der Graben zwischen Deutschschweiz und Romandie, zwischen Stadt und Land, er verschwindet. Gepriesen sei das Auto, möchte man hinzufügen, es stiftet Identität! Im Auto gibt es weder Zürcherin noch Genfer, weder Städter noch Landbewohner, weder Mann noch Frau, im Auto sind alle eins. Was die Schweiz im Innersten zusammenhält? Der Drang, Auto zu fahren. Mobilität ist nämlich ein Drang, lese ich, ein sehr starker Drang, einer, dem man unbedingt nachgeben muss, weil man sonst irgendwie beschnitten ist, mobilitätsmässig und in seinen Grundrechten ? etwa dem "Grundrecht der freien Wahl des Verkehrsmittels" (NLZ). "Das Auto ist nichts Schlechtes. Es ist vielmehr eines der wichtigsten Güter, das wir in Zukunft umweltverträglich einsetzen wollen." (NLZ) Noch steht es nicht in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, aber dies kommt sicher noch.

 

Es gibt für’s Autofahren viele verständliche Gründe, unverständliche auch. Verteidigt wird es in jedem Fall. Wer das nicht einsehen will, ist ... ist einfach jenseits, nicht von dieser Welt. In dieser Welt aber, da ist freier Verkehr nicht verkehrt, denn er ist, dank Katalysator, geschützter Verkehr. Da ist Schluss mit der Angst vor unangenehmen Folgen, mit verdorbenem Spass; die Luft wird reiner, das Gewissen sowieso.

 

Ja, Autos sind immer gut. Kinder? Ein bisschen weniger gut (hohe Umweltbelastung in Form von Gestank und Lärm, zusätzlich störende Faktoren wie Einschränkung von Mobilität und Flexibilität, von beruflichem Vorankommen oder finanziellen Kapazitäten etc.)

 

Frauen? Hängt davon ab wo, wie und wann. Mehr Autos auf die Strassen, weniger Frauen in die Behörden? Oder richtiger: Lassen wir den Dingen doch ihren Lauf, wird schon gerecht sein. Nichts gegen Frauen an sich, nichts gegen Frauen im öffentlichen Bereich und Erwerbsleben, obwohl, wer ist Schuld am drastischen Schweizerkinderschwund? Klar! Muss man gar nicht sagen. Abgesehen davon haben die Frauen rechtlich gesehen doch alles, was sie sich nur wünschen können, bloss die Gesellschaft muss sich halt noch ändern und "die Gleichstellung muss ... in der Wirtschaft rigoros vorangetrieben werden" (NZZ). Kann man die Frauen auf dem Arbeitsmarkt brauchen, dann wird sich die Wirtschaft schon für bessere Rahmenbedingungen einbinden lassen. Wird sich alles schon irgendwie richten, in aller Ruhe und Besonnenheit, schweizerisch eben. Und die Frauen haben glücklicherweise inzwischen Stolz entwickelt, haben von der "überholten Opferrolle" (NZZ) Abschied genommen, "sie sind nicht auf die Barmherzigkeit der Gesellschaft angewiesen" und wollen "keine staatlich verordneten Schutzmassnahmen" (NZZ). Sie sind die Mehrheit und brauchen nicht die "Männerbastionen mit staatlichen lizenzierten Brechstangen zu stürmen."

 

Männerbastionen? Brechstangen? Stürmen? Klingt irgendwie nach Krieg. Ist aber doch keiner, weil Männer doch gar nichts verteidigen, weil Gleichstellung doch längst kein Thema mehr ist und kein Problem. Wer wirklich will, kann, und wer nicht kann, die will nicht, nicht wirklich, nicht so, wie's nötig wäre. Deshalb:

 

Keine Quotenkrücken, keine Sonderbehandlungen und was gibt es Schöneres, als wenn Frauen Frauen bekämpfen – man braucht gar nicht nach Marokko schauen, wo Frauen auf die Strasse gehen, um gegen ihre Rechte zu demonstrieren. Wir können das auch, gegen unsere Rechte sein, sogar ganz demokratisch mit unseren Stimmzetteln! Mutterschaftsversicherung? Nein, wozu auch! In ganz Europa selbstverständlich, in der Schweiz unnötig, ja ein ganz und gar unschönes Ansinnen.

 

Aber was interessiert uns Europa? Die Mehrheit der Emmener und Emmenerinnen machten es uns vor. In ihrer Mitte ein Kinokomplex mit weltstädtischem Glanz, aber die Welt, in Form von Menschen, im eigenen Haus? Nur nach gründlichster Selektion! Glücklicherweise bleiben die Schweizer und Schweizerinnen davor verschont, man möchte nicht wissen, wie viele übrigblieben.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2000 / Kolumne NLZ